Quasimodogeniti, 11.04. 2021

Von Pfarrer i.R. Andreas Schiel

Predigtgedanken über Johannes 20, 19 – 29

Wir Menschen brauchen Sicherheit. Wir benötigen die Gewähr, dass wir uns bei den wichtigen Dingen unseres Lebens darauf verlassen können, dass Zusagen eingehalten werden. Dass uns nicht etwas eingeredet wird, was gar nicht stimmt. Dass die Dinge so sind, wie sie uns dargestellt werden und keine „fake news“ sind. Wir benötigen Verlässlichkeit. Sicher, auch die Ungewissheit hat ihre Reize und das Neue spornt uns dazu an, ausgetretene Pfade zu verlassen und uns auf Unbekanntes einzulassen. Aber nur Ungewissheit, Unsicherheit können wir nicht ertragen. Und wenn wir uns auf unbekanntes Gebiet wagen, dann soll uns doch wenigstens etwas Bekanntes begleiten. Dann ist es gut, eine Basis zu haben, von der wir uns hinauswagen, zu der wir aber auch zurückkehren können. Deshalb ist der Zweifel für unser Leben wichtig; denn er schützt uns davor, alles blindlings zu glauben. Der Zweifel benötigt Beweise, er will prüfen und sich selbst überzeugen, anstatt ungeprüft nachzusprechen, was andere erzählen.

Mit diesen Zweifeln tritt Thomas auf, der Jünger, der nicht glauben kann, dass Jesus wieder lebendig geworden und den anderen Jüngern erschienen ist. Er war nicht dabei, als es geschah. Wie soll er glauben, was einfach unglaublich ist. Sagen Sie nicht, „aber es steht doch in den Evangelien, dass Jesus auferstanden ist“. Das mag stimmen. Aber die Evangelien wurden erst Jahrzehnte später geschrieben. Thomas äußert seine Zweifel am Ostersonntag, als noch niemand etwas anderes denken konnte, als dass Jesus gestorben war. Als Maria Magdalena und andere den Auferstandenen anfangs auch nicht erkannten und andere Stellen in den Evangelien genauso über Zweifel und Unglauben unter den Jüngern berichten.

Hat Thomas also nicht Grund zu zweifeln? Nein, lautet die einhellige Meinung der Kirche. Wie kann er daran zweifeln, dass Jesus auferstanden ist? Das ist doch die Grundlage unseres Glaubens! Deshalb wird er der „ungläubige Thomas“ genannt.

Aber schauen wir uns die Erzählung in der Bibel genauer an: Da ist überhaupt nicht vom „ungläubigen Thomas“ die Rede. Er wird schlicht „Didymus“ genannt, „der Zwilling“, „Thomas der Zwilling“. Aber wer ist sein Zwilling? Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, aber ich fühle mich bisweilen wie sein Zwilling. Ich kann seine Haltung gut verstehen. Denn er zieht in Zweifel, was wirklich unglaublich ist.

Versetzen wir uns einmal in seine Lage: Nehmen wir also an, wir kommen abends nach Hause, und die Familie empfängt uns ganz aufgeregt mit den Worten, Jesus sei gerade dagewesen. Ja, es sei wirklich Jesus gewesen. Sie hätten ihn sofort erkannt. Wie würden wir da reagieren? Jesus in unserer Wohnung? Nicht in der Dreieinigkeits-kirche, das mag vielleicht noch angehen. Nein, bei uns zuhause in der Lipschitzallee, in der Rudower Straße oder im Glockenblumenweg. Also ehrlich: Das sollen wir glauben? Würden wir nicht – ganz wie Thomas – sagen: „Wenn ich nicht in seinen Händen die Nägelmale sehe und lege meinen Finger in die Nägelmale und lege meine Hand in seine Seite, kann ich's nicht glauben“?

Jesus bei uns zuhause?! Das ist genauso unglaublich wie die Behauptung der Jünger am Abend des Ostersonntags. Damals, als alles unglaublich neu war. Es ist kein Wunder, dass dem Thomas Zweifel kommen und er Beweise sehen will. Und wie reagiert Jesus? Jesus weist die Forderung des Thomas nicht ab, sondern erfüllt sie. Er lässt sich von Thomas sehen und „begreifen“, damit auch Thomas die Auferstehung Jesu „begreifen“ kann. Jesus reagiert nicht empört, er nimmt den Zweifel ernst und zerstreut ihn durch sein Erscheinen.

Liebe Gemeinde, wir brauchen in der Kirche nicht nur Menschen, die bedingungslos und ohne Fragen glauben. Wir brauchen auch die anderen, die Zweifel äußern, die nachfragen. Die Glaubensgewiss-heiten hinterfragen und verstehen wollen, was sie glauben. Gerade sie bringen oft den Glauben voran. Wir brauchen Menschen wie Martin Luther, Hans Küng oder Dietrich Bonhoeffer. Ich bin froh, dass Jesus dem Thomas erschienen ist. Zeigt er uns doch damit, dass Zweifel nicht verboten sondern erlaubt sind. Weil sie menschlich sind. Denn Hand aufs Herz, wer von uns hätte nicht auch bisweilen Zweifel?!

Jesus nimmt den Zweifel von Thomas ernst. Und damit nimmt er ihm die Last ab, die Thomas sicher bedrückt hat: Wie konnte er nur zweifeln, wenn die anderen Jünger glauben?! Aber wie soll er glauben, was er weder gesehen hat noch verstehen kann. Ganz fürsorglich wendet sich Jesus dem Thomas zu. Das wird in einer Bronzeskulptur des Künstlers Ernst Barlach deutlich,

die hier in der Dreieinigkeits-kirche steht: Jesus greift Thomas unter die Arme und stützt ihn. War Thomas Jesus zu Füßen gefallen? Das sehen wir nicht mehr, wir ahnen es nur. Jesus richtet ihn aus der gebückten Haltung wieder auf. Stellt ihn auf seine eigenen Füße. Und hält ihn dabei fest. „Du weißt jetzt, dass ich lebe. Du hast festen Boden unter deinen Füßen. Du kannst glauben, ohne zu zweifeln. ‚Sei nicht ungläubig, sondern gläubig!‘“ Den letzten Satz sagt Jesus aber meines Erachtens nicht vorwurfsvoll, tadelnd, sondern ganz im Einklang mit der Geste des Aufhebens: liebevoll und fürsorglich.

Thomas hält sich an Jesus fest. Fast scheint es, als klammere er sich an ihn. Oder will er ihn umarmen? Der zweifelnde Jünger umarmt den Auferstandenen und spricht als erster in den Erscheinungsgeschichten des Johannesevangeliums das Bekenntnis aus, aus dem wir Christ- Innen leben: „Mein Herr und mein Gott!“ Nicht Maria Magdalena, nicht Petrus, auch nicht der Jünger, den Jesus lieb hatte, sagt es, sondern Thomas, der Zwei er, der jetzt glauben kann.

„Das Wiedersehen“ hat Ernst Barlach die Bronzeskulptur genannt. Ein „Wiedersehen“ nach einer schmerzlichen Zeit der Trennung und des Zweifels. Aber jetzt ist alles klar. „Mein Herr und mein Gott!“

Bleibt noch eins: Thomas konnte den Auferstandenen sehen und damit „begreifen“, was geschehen war. Er fand so zu seinem Bekenntnis, das alle Zweifel hinter sich ließ. Uns aber bleibt nur der Satz Jesu: „Selig sind, die nicht sehen und doch glauben.“ Wir müssen an die Auferstehung glauben, ohne den Auferstandenen zu Gesicht zu bekommen. Oder gibt es auch für uns diese Möglichkeit?

Ich denke schon. Denn in seiner ersten Erscheinung sagt Jesus zu den Jüngern: „Friede sei mit euch! Wie mich der Vater gesandt hat, so sende ich euch... Empfangt den Heiligen Geist!“ Mit diesen Worten sendet Jesus seine Jünger aus, damit sie an seiner Stelle wirken. Im Heiligen Geist geht Jesus von nun an mit den JüngerInnen weiter in die Welt. Das heißt doch: Jesus lebt und wirkt in seiner Gemeinde weiter. Lebt und wirkt in uns. In der Gemeinschaft der ChristInnen in der Welt und vor Ort, auch hier in der Gropiusstadt. In allen Menschen, die sich zu Christus bekennen – und auch darüber hinaus.

Dietrich Bonhoeffer hat das einst so formuliert: Jesus Christus existiert nicht irgendwo, sondern mitten in der Welt in seiner Gemeinde. Wir alle sind Christus, so wie er jetzt sichtbar ist. Und sollte manchen bei so einem großen Satz jetzt Zweifel kommen, das macht nichts. Jesus hält unsere Zweifel aus, so wie damals bei Thomas. Und so wie damals hält er uns und richtet uns auf und zerstreut unsere Zweifel. Denn er lässt sich sehen und „tritt in unsere Mitte“ – in der Gemeinde und in den Menschen, denen wir begegnen.

Amen.