Karfreitag, 02.04.2021

Von Pfarrer i. R. Andreas Schiel

Kreuzwegsmeditation in drei Stationen  

Matthäus 27, 15-17. 20-24:  „Zum Fest aber hatte der Statthalter die Gewohnheit, dem Volk einen Gefangenen loszugeben, welchen sie wollten. Sie hatten aber zu der Zeit einen berüchtigten Gefangenen, der hieß Jesus Barabbas. Und als sie versammelt waren, sprach Pilatus zu ihnen: Welchen wollt ihr? Wen soll ich euch losgeben, Jesus Barabbas oder Jesus, von dem gesagt wird, er sei der Christus?... Aber die Hohenpriester und die Ältesten überredeten das Volk, dass sie um Barabbas bitten, Jesus aber umbringen sollten. Da antwortete nun der Statthalter und sprach zu ihnen: Welchen wollt ihr? Wen von den beiden soll ich euch losgeben? Sie sprachen: Barabbas! Pilatus sprach zu ihnen: Was soll ich dann machen mit Jesus, von dem gesagt wird, er sei der Christus? Sie sprachen alle: Lass ihn kreuzigen! Er aber sagte: Was hat er denn Böses getan? Sie schrien aber noch mehr: Lass ihn kreuzigen! Da aber Pilatus sah, dass er nichts ausrichtete, sondern das Getümmel immer größer wurde, nahm er Wasser und wusch sich die Hände vor dem Volk und sprach: Ich bin unschuldig am Blut dieses Menschen; seht ihr zu!“ 
Historische Information: In den Evangelien kommt Pontius Pilatus, der römische Statthalter, recht gut weg. Er will Jesus freilassen, sieht sich aber von den Hohepriestern und der Menge gezwungen, ihn zu kreuzigen. Er wäscht seine Hände in Unschuld und will mit Jesu Tod nichts zu tun haben. Der jüdische Schriftsteller Josephus zeichnet ein anderes Bild von Pilatus: Er war ein römischer Statthalter, der seine Ziele mit brutaler Gewalt gegen das jüdische Volk durchsetzte, sich über ihre Gesetze hinwegsetzte und Gelder aus dem Tempelschatz beschlagnahmte. Nachdem er eine Demonstration von Samaritern mit Gewalt niedergeschlagen hatte, wurde er vom römischen Gouverneur Vitellius 36 n.Chr. seines Amtes enthoben. 
Max Beckmann, Christus und Pilatus: Max Beckmann zeichnet Pilatus als einen Machtmenschen, dem der machtlose, mit dem Dornenkranz gemarterte Jesus gegenübersteht. Ob er damit an die Nazi-Zeit erinnern wollte, die gerade erst vergangen war? Es kommen Bilder von Soldaten in Myanmar, Belarus oder anderen Ländern in den Sinn, die Demonstranten niederknüppeln, verhaften oder erschießen. 
Frage: Was zählt ein Menschenleben gegenüber der Gewalt der Machthaber? Wie viel Macht haben das Recht und die Liebe gegenüber den Knüppeln und Gewehren, den Folterkammern und Kreuzen derer, die sich mit Gewalt an der Macht halten wollen? 


 

2. Station: Simon von Kyrene und die weinenden Frauen 
Kreuzweg in St. Joseph, München, Gemälde von Gebhard Fugel (1908) 
Text Lukas 23, 26 – 32: „Und als sie ihn abführten, ergriffen sie einen, Simon von Kyrene, der vom Feld kam, und legten das Kreuz auf ihn, dass er's Jesus nachtrüge. Es folgte ihm aber eine große Volksmenge und viele Frauen, die klagten und beweinten ihn. Jesus aber wandte sich um zu ihnen und sprach: Ihr Töchter von Jerusalem, weint nicht über mich, sondern weint über euch selbst und über eure Kinder. Denn siehe, es wird die Zeit kommen, in der man sagen wird: Selig sind die Unfruchtbaren und die Leiber, die nicht geboren haben, und die Brüste, die nicht genährt haben! Dann werden sie anfangen zu sagen zu den Bergen: Fallt über uns!, und zu den Hügeln: Bedeckt uns! Denn wenn man das tut am grünen Holz, was wird am dürren werden?“ 
Die Menschen am Rande: Manche stehen am Randes des Weges, den Jesus und die zwei, die mit ihm gekreuzigt werden, gehen muss, auf der „Via Dolorosa“, dem Leidensweg. Sie schauen nur kurz auf, als die Soldaten mit den Verurteilten vorgehen. Es geht sie nichts an, was da passiert. Oder sie wollen mit dem Leiden dieser drei Menschen nichts zu tun haben. Es gibt schließlich genug Leiden in der Welt. Menschen werden in Massen hingerichtet – damals in Jerusalem so wie heute in vielen Ländern der Welt. 
Die weinenden Frauen: Die Frauen sind extra gekommen und begleiten Jesus auf seinem letzten irdischen Weg. Sie können nichts für ihn tun. Und sie tun doch so viel für ihn: Ihre Präsenz, ihr Weinen zeigt ihre Verbundenheit mit ihm bis zuletzt. Sie sind nicht geflohen wie die meisten Jünger, und das stärkt, selbst in dieser Stunde. Wenn sie nicht wären – und ihre Töchter (und Söhne), die heute den Leidensweg von verurteilten und gefolterten Menschen begleiten – dann hätten die Gewaltherrscher und ihre Folterknechte leichtes Spiel. Aber sie sorgen dafür, dass diese Taten nicht im Verborgenen bleiben. 
Simon von Kyrene: Und manche werden hineingezogen in das grausame „Spiel“ wie Simon von Kyrene. Er kommt von der Feldarbeit. Jetzt soll er für einen Unbekannten das Kreuz zur Hinrichtung tragen; denn der bricht unter der Last zusammen, ist zu geschwächt von der vorherigen Folter. Tut Simon es nur, weil er von den Soldaten gezwungen wird? Oder wächst beim Tragen die Solidarität mit dem Verurteilten? Denn es könnte auch ihn treffen, wie so viele andere unter einem Gewaltregime. Ahnt er vielleicht dunkel, dass der, dessen Kreuz er trägt, für ihn – und uns alle – ans Kreuz genagelt wird? 
 


3. Station: Menschen unter dem Kreuz 
Text Johannes 19, 16 – 30: Da überantwortete er ihnen Jesus, dass er gekreuzigt würde. Sie nahmen ihn aber, und er trug selber das Kreuz und ging hinaus zur Stätte, die da heißt Schädelstätte, auf Hebräisch Golgatha. Dort kreuzigten sie ihn und mit ihm zwei andere zu beiden Seiten, Jesus aber in der Mitte. Pilatus aber schrieb eine Aufschrift und setzte sie auf das Kreuz; und es war geschrieben: Jesus von Nazareth, der Juden König. Diese Aufschrift lasen viele Juden, denn die Stätte, wo Jesus gekreuzigt wurde, war nahe bei der Stadt. Und es war geschrieben in hebräischer, lateinischer und griechischer Sprache. Da sprachen die Hohenpriester der Juden zu Pilatus: Schreibe nicht: Der Juden König, sondern dass er gesagt hat: Ich bin der Juden König. Pilatus antwortete: Was ich geschrieben habe, das habe ich geschrieben. Die Soldaten aber, da sie Jesus gekreuzigt hatten, nahmen seine Kleider und machten vier Teile, für jeden Soldaten einen Teil, dazu auch den Rock. Der aber war ungenäht, von oben an gewebt in einem Stück. Da sprachen sie untereinander: Lasst uns den nicht zerteilen, sondern darum losen, wem er gehören soll. So sollte die Schrift erfüllt werden, die sagt: »Sie haben meine Kleider unter sich geteilt und haben über mein Gewand das Los geworfen.« Das taten die Soldaten. Es standen aber bei dem Kreuz Jesu seine Mutter und seiner Mutter Schwester, Maria, die Frau des Klopas, und Maria Magdalena. Als nun Jesus seine Mutter sah und bei ihr den Jünger, den er lieb hatte, spricht er zu seiner Mutter: Frau, siehe, das ist dein Sohn! Danach spricht er zu dem Jünger: Siehe, das ist deine Mutter! Und von der Stunde an nahm sie der Jünger zu sich. Danach, als Jesus wusste, dass schon alles vollbracht war, spricht er, damit die Schrift erfüllt würde: Mich dürstet. Da stand ein Gefäß voll Essig. Sie aber füllten einen Schwamm mit Essig und legten ihn um einen Ysop und hielten ihm den an den Mund. Da nun Jesus den Essig genommen hatte, sprach er: Es ist vollbracht. Und neigte das Haupt und verschied. 
Gedanken zu Johannes 19, 16 – 30 
„Were you there when they crucified my Lord?” “Warst du dabei, als sie meinen Herrn ans Kreuz nagelten?“ So fragt ein Spiritual. Wie nahe bist du Christus in seiner Todesstunde? Stehst du voll Verzweiflung und Trauer oder voll Hohn und Spott unter dem Kreuz? Oder schaust du dir alles aus sicherer Entfernung an? Berührt dich Jesu Tod überhaupt? Diese Fragen stellen sich uns am Karfreitag. 
Dazu soll uns ein Gemälde von Andrea Mantegna helfen. Unter dem Kreuz Jesu sehen wir verschiedene Menschengruppen, die klar voneinander getrennt sind: links die Trauernden, Verzweifelten – Jesu Mutter, Maria 

 


Magdalena und andere Freund*innen Jesu – rechts die römischen Soldaten, die um das Obergewand Jesu würfeln, und andere, vielleicht Mitglieder des Hohen Rats. 
Und dann sind da Menschen im Hintergrund. Menschen, die ihren Geschäften nachzugehen scheinen. Die kaum hochblicken zu den drei am Kreuz Hängenden. Die keine Notiz davon zu nehmen scheinen, was um sie da herum gerade geschieht. Nehmen sie nicht wahr, dass drei Menschen sterben? Dass da Menschen verzweifelt sind und das Ganze nicht fassen können? Sind sie abgestumpft von den vielen Kreuzigungen, die die Römer zur Abschreckung auf öffentlichen Plätzen oder Hauptstraßen vorzunehmen pflegen? „Schon wieder eine Kreuzigung. Tja, da kann man nichts machen, ist halt so, wenn die Römer die Macht haben. Ich muss weiter, will mich damit nicht beschäftigen.“ Vielleicht sind ihre Gedanken so oder ähnlich. Vielleicht ist ihnen das Schicksal Jesu und der beiden andern am Kreuz egal. Vielleicht haben sie Angst, ins Visier der Römer zu geraten, wenn sie sich zu deutlich für die Sterbenden interessieren oder sich gar für sie einsetzen. 
Kennen Sie Menschen, die solche Situationen nicht an sich heran lassen? Die sich abwenden, wenn sie Menschen sehen, die leiden? Die von den täglichen Nachrichten abgestumpft sind und auf Bilder von ertrinkenden Bootsflüchtlingen mit den Worten reagieren, „ich kann mich doch nicht um alles kümmern ...“? Oder die sagen: „Corona? In meiner Bekanntschaft ist noch niemand gestorben. Das ist doch alles nur aufgebauscht!“ Menschen, die ihr Leben einfach nur ungestört genießen wollen. 
„Were you there when they crucified my Lord?” „Was geht der mich überhaupt an?“ Was hat das Kreuz Jesu mit diesen Menschen zu tun? Berührt es sie überhaupt? Oder ist es für sie nur ein Schmuckstück an einer Kette um den Hals? 
Rechts unter dem Kreuz sind die römischen Soldaten. Vorhin haben sie Jesus gefoltert und verspottet, haben Schindluder mit dem Wehrlosen getrieben. Jetzt teilen seine Kleidung untereinander auf. Noch bevor Jesus tot ist, hat seine Habe schon den Besitzer gewechselt. Eine kleine Aufbesserung des kargen Lohns. Keiner der Soldaten überlegt nur für einen Moment, wer dieser Mensch sein könnte, der über ihnen qualvoll stirbt, während sie um seinen Besitz würfeln. Wozu überlegen? Mitgefühl stört nur, kann sogar gefährlich sein. Das kann sich wohl kein Soldat gegenüber den Menschen eines besetzten Landes leisten. Die Demütigung des Feindes gehört zum Alltag vieler Soldaten. So oder ähnlich handeln bis heute oft Besatzer mit Besetzten. Man kann es Abschreckung nennen oder Terror – jedenfalls erfüllt es seinen Zweck. 
Das war damals unter dem Kreuz auf Golgatha so und in vielen von der Wehrmacht besetzten Gebieten im Zweiten Weltkrieg. Davon berichten Filme aus dem Vietnamkrieg und Bilder aus Abu Graib im Irak vor wenigen Jahren. „Selig sind die Sanftmütigen; denn sie werden das Erdreich besitzen“, hat Jesus gesagt und „selig sind, die Frieden stiften; denn sie werden Gottes Kinder heißen.“ Aber wer erinnert sich unterm Kreuz noch an seine Worte? Hier regieren Terror und Gewalt. 
Kennen Sie Menschen, die ihre Gewalt an anderen ausleben, die sie demütigen? Die noch nachtreten, wenn der andere schon geschlagen am Boden liegt? Die sich einen Spaß aus dem Leiden anderer machen? 
„Were you there when they crucified my Lord?” Jeder Krieg, jede Besatzung errichtet neue Kreuze, schafft weitere Opfer. Und solche Soldaten wie auf dem Gemälde von Andrea Mantegna, die ihre Opfer foltern und demütigen und nach der Folter unterm Kreuz würfeln. Links stehen die Frauen mit dem Lieblingsjünger. Die Verzweiflung über die Situation, aus der es keinen Ausweg mehr gibt und die sie so nicht vorhergesehen haben, ist ihnen ins Gesicht geschrieben. Trauer über den Tod des geliebten Menschen. Ein Gefühl der Verlassenheit, der Sinnlosigkeit: Was soll aus ihnen werden ohne Jesus, der ihrem Leben Sinn und Ziel gegeben hat? Der ihnen erst gezeigt hat, wie Leben wirklich sein kann. Ein Leben wie Gott es für alle Menschen will. 
Die Frauen halten unter dem Kreuz aus, auch wenn der Schmerz nicht auszuhalten ist. Sie zeigen selbst in dieser verzweifelten, gefährlichen Situation ihre Liebe zu Jesus. Von den Jüngern traut sich dagegen nur einer bis unters Kreuz. Die anderen haben sich versteckt aus Angst davor, wie Jesus gekreuzigt zu werden, wenn sie als seine Freunde erkannt werden. Kennen wir nicht auch solche Menschen? Menschen, die bei aller eigenen Trauer zu uns halten bis zum bitteren Ende. Die uns Kraft geben, wenn unsere Kraft versagt. Die helfen auszuhalten, was nicht auszuhalten ist. „Selig sind, die da Leid tragen; denn sie sollen getröstet werden.“ Sie sind es, die die Leidtragenden trösten. 
„Were you there when they crucified my Lord?” Was ist mit uns? Wo stehen wir – links oder rechts vom Kreuz? Sind wir solche, die sich abwenden, weil wir mit dem Ganzen nichts zu tun haben wollen? Sind wir betroffen? Nehmen wir am Geschehen teil, weil wir spüren: Jesu Tod hat etwas mit mir zu tun? Er hat Auswirkungen auf mein Leben, verändert mein Leben. Diese Frage stellt sich uns am Karfreitag. Wir müssen sie beantworten – heute und jeden Tag.

Amen.